Dienstag, 15. Mai 2012

Leben - Zwischen Nürnberg und Schwäbisch Hall

Schnelles Umsteigen in Nürnberg. Vom ICE in den IC. Ich hab einen Fensterplatz reserviert. Aber da sitzt schon eine Frau. Mitte vierzig, eine Farbige, schick angezogen. Normalerweise bestehe ich auf meinen Fensterplatz, aber diesmal war es mir egal. Das Ding, was dafür sorgt, dass ich Geschichten erlebe, hatte da wohl seine Finger im Spiel. Kaum saß ich, sprach mich die Frau im Gang neben mir an. Sie, eine auch Mit-Vierzigerin, blond gefärbt und schlecht frisiert, rotes Labbershirt, gerötete Wangen: „Hat der jetzt ICE gesagt?“ Sie meinte die Stimme, die gerade aus dem Lautsprecher kam. „Willkommen im IC ..“-blabla. „Nein, IC ist das hier,“ sage ich knapp. „Ach, dann ist es ja gut, ich habe nämlich nur ein Wochenendticket, und damit darf ich nicht im ICE fahren.“ Die Frau ist total aufgeregt, darum verkneife ich mir, zu sagen, dass man damit auch nicht im IC fahren darf. Sie redet weiter. Erklärt mir, dass heute nämlich schon alles schief gegangen ist. Erst Schienenersatzverkehr, dann da umsteigen und dann wusste sie nicht, und der Schaffner hat gesagt und sonst sei sie eigentlich eine Stunde später da und sie muss nach Stuttgart und, und, und. Die farbige Frau neben mir sagt, mit Akzent, so dass es recht unverständlich klingt, aber ich weiss ja, was sie sagen will:„Wochenendticket gilt nicht im IC.“ Ach je! Die roten Wangen werden noch röter. Und vor uns dreht sich ein Junge rum, auch plötzlich aufgeregt: „Ist das nicht der IC?“ Doch, doch, alles gut. Nicht für die blonde Frau. „Oh, nein, aber der Schaffner hat mir gesagt, um 15h noch was, soll ich mit dem Zug nach Stuttgart fahren. Der hätte das doch wissen müssen. Soll ich jetzt aussteigen am nächsten Bahnhof?“ Ein roter Zug fährt an uns vorbei. „Ach, das ist jetzt sicher der Zug, den ich hätte nehmen sollen. Fährt der nach Stuttgart?“ fragt sie mich. Woher soll ich das wissen?! Ich rate ihr nun erstmal hier zu bleiben, der Schaffner hier hätte sicher Verständnis für sie. Was das Szenario abrundet ist die Sprache der Frau. „Ich komme nämlich aus Zwickau. Ich bin Krankenschwester. Und ich fahre ja nie mit dem Zug.“ Ja, das passt alles, denke ich mir, und bin hin und her gerissen zwischen Rührung, Mitleid und Lass-mich-jetzt-mal-in-Ruhe. „Wissen Sie, mein Tag heute fing schon so schlimm an.“ Und sie erzählt mir, dass sie zwei Töchter hat und mit der einen wollte sie die andere in Stuttgart besuchen. Sonst fahren sie da immer mit dem Auto hin, aber diesmal schlug sie vor, doch mal den Zug zu nehmen. Da hatte die Tochter keine Lust drauf, und maulte und käme dann eben nicht mit. Verzweiflung. Was nun? Die Stuttgart-Tochter hätte dann wohl gesagt, wenn sie nur hinkommt, wenn sie bequem im Auto fahren kann, dann wird es ihr wohl nicht so wichtig sein sie zu sehen. Enttäuschung. Klarwerden von Tatsachen. Ich verstehe, das sind die Dinge, die ich aus ihrer wirren, gesächselten Erzählung heraus interpretiere. Ich kann die Frau verstehen, fühle ihren Tag nach, so als sei jeder Meter, den man zurücklegt, schon nicht von Freude geprägt, sondern immer noch mit dem schlechten Gefühl von Unfrieden, vielleicht dem schlechten Gewissen („Hätte ich doch mit dem Auto fahren sollen, dann wäre Tochter x mitgekommen?“). Widerwillen. Eigentlich fast klar, dass die Zugfahrt nicht reibungslos und schön werden kann. Es passt zu ihr, dass sie diese Fortsetzung erlebt. Und es passt zu mir, dass ich neben ihr sitze und ihre Geschichte erlebe. Die Schaffnerin kommt. Das wird klappen, denke ich mir. Eine junge Frau, etwas dicklich gemütlich, stets lächelnd und scheinbar noch nicht so lange in ihrem Job. Sie steht neben uns und meine aufgeregte Gang Nebennachbarin zeigt ihr das Wochenendticket. Kurz tut sie als sei alles in Ordnung damit und dann beginnt sie aber ihre Geschichte, genau so wirr und aufgeregt zu erzählen, wie sie es bei mir getan hat. Inklusive dem schlimmen Tag. Nur die Töchter ließ sie aus. Natürlich schickt die Schaffnerin sie nicht aus dem Zug. Sie lässt sie auch nicht nachzahlen. Stattdessen lacht sie und kann kaum was sagen, denn die verzweifelte Frau lässt ja niemanden zu Wort kommen. Sie bedankt sich dramatisch und die Schaffnerin geht vergnügt zum nächsten Sitzpaar. Die Zwickauer Krankenschwester kramt ihre Tasche raus und holt eine Tüte raus. Ich schaue meine Sitznachbarin am Fensterplatz an. Schon vorher haben wir uns einen belustigten Blick zu geworfen, worauf diese sagte: „Die ist verrückt“! Nein, das finde ich nicht. Ich finde sie rührend. Darum verstehe ich auch, was die Frau gerade aus ihrer Tasche holt. „Jetzt gibt’s sicher Kekse,“ sage ich zu meiner Nachbarin. Und prompt ruft die Zwickauerin die Schaffnerin zurück und schenkt ihr eine Packung Butterkekse. Ob sie auch noch eine Tüte dazu wolle? „Nein, danke, das geht so,“ lacht die Schaffnerin, und scheint sich echt zu freuen. Kurz ist Ruhe, dann dreht sich der Junge vom Sitz vor uns um und sagt zu der Zwickauerin. „Ich fahre heute zum ersten Mal alleine so eine Weite Strecke.“ „Wie alt bist du denn?“ fragt die Zwickauerin, und ihre Stimme ist jetzt ganz fest, und ich traue ihr zu, dass sie eine gute Mutter, und eine prima Krankenschwester ist. „Vierzehn“, sagt der Junge stolz. „Toll, das schaffst du, das weiß ich!“ Ich sehe sie in ihrem Krankenhaus, wie sie die Patienten versorgt, mit ihnen leidet und sich mit ihnen freut. Leidenschaft und Emotionen, Mitfühlen das kann sie. Sie traut sich was, sie ist nicht in einer isolierten Welt wie so viele von uns. Sie geht raus aus ihrer kleinen Welt und hat noch nicht verstanden, dass man sich hier nicht anspricht. Dass man hier Fremden nicht erzählt von den Familienstreitigkeiten. Man macht sich lächerlich, wenn man das tut. Man wird für verrückt erklärt. Und ich frage mich, wer das schönere Leben hat, sie oder wir "modernen Menschen"...?

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