Dienstag, 15. Mai 2012

Noch mehr Leben

Nochmal umsteigen vom IC in einen kleinen Nahverkehrszug. Ich setze mich in einen Vierer, mir gegenüber sitzt ein Mann. Vollbart, Helmut Kohl-Brille, unmoderne Jeans, senffarbene Winterjacke. Er sitzt recht unentspannt, angelehnt ans Fenster, die Hände auf seinen Beinen. Er schaut raus, aber scheint nicht wirklich zu schauen. Nur die Augen scheinen raus zu gehen, die Gedanken folgen nicht. Der Zug fährt gerade los, da höre ich den Mann leise sagen: „Ich will nicht mehr.“ Oh nein! denke ich, was kommt denn jetzt noch? Was ist denn heute los? Ich mache erst mal nichts. Schiele zu dem Mann hin, der starrt aber weiterhin aus dem Fenster. Es schien kein Aufruf von „Bitte sprich mit mir !“ zu sein. Ich mache es so ein bisschen wie die Tiere. Bewege mich nicht in der Hoffnung, dann sieht er seine Beute nicht. Er bleibt still. Ich auch. Passiert da gleich noch was? Ich schaue zu der Frau im Vierer nebenan. Sie holt ein Teilchen aus einer Bäckereitüte. Sie lächelt und isst schön hungrig und genussvoll. Kein Sündigen, kein Huch! Die Tüte knistert auffallend laut! Sie kaut, schaut aus dem Fenster, genießt die Landschaft und die Sonne, die in ihr Gesicht scheint. Ich schaue zu ihr, und da ist heile Welt. Ich schaue zum Mann gegenüber und da ist dunkle Welt. Zwei Menschen, komplett andere Ausstrahlung. Ich steige aus. Er bleibt drin. Wo fährt er hin? Wie sieht sein Leben aus? Warum will er nicht mehr? Ich denke mir, hey, du bist gesund, du hast bestimmt ein warmes Zuhause, am Verhungern bist du auch nicht, das allein sollte schon zum Weiterleben ausreichen. Mach was draus! Und wenn du gerade echt grosse Störfaktoren in deinem Leben hast, versuch sie los zu werden. Nicht immer einfach. Vielleicht ist er einsam? Vielleicht ist seine Frau gestorben? Er ist gerade arbeitslos geworden? Er sieht ein bisschen aus wie ein Lehrer. Erdkunde, Mathe. Vielleicht erlebt er täglich die Hölle mit seinen Schülern? Leben... von jedem anders empfunden.

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