Sonntag, 20. September 2009

Mit dem Rücken zu Paris

Ich lüge, wenn ich diesen Blog so nenne. Denn ich sitze im Zug, und fahre rückwärts. Das heißt, Paris liegt mir nicht im Rücken, sondern vor mir. Aber es passt so gut, darum gönne ich mir jetzt mal so etwas wie dichterische Freiheit.
Ich bin froh, dass ich mit jedem Kilometer Paris ferner, und Köln näher komme. Ich weiß nicht, wem ich dafür die Schuld geben soll. Paris oder mir. Ist Paris einfach schrecklich laut, dreckig, hektisch, vollgestopft, stereotyp und ermüdend, oder will ich Paris so sehen? Macht die Stadt mich missmutig, angespannt, gestresst und leicht ängstlich, oder kommt das aus meiner Sicht auf die Stadt. Gibt es da wieder nur einen Schalter, den ich umlegen könnte? Lauter Fragen, auf die ich die Antworten ehrlich gesagt, bereits kenne. Ja, ich bin Schuld, dass ich Paris ins schlechte Licht stelle, denn ich will es so sehen. Ja, ich könnte die vielen Menschen auch anders betrachten, auch die lauten Farbigen, die schubsenden Pariser, die prolligen Marokkaner. Ich könnte sie alle lieb haben, und dann würde ich auch kein Unwohlsein mehr empfinden. Ich könnte den Menschen in die vollgequetschte Metro vorlassen, anstatt mich selber zu quetschen. Der bettelnden Zigeunerin, könnte ich auf ihr „Speaking english?“ antworten „Non. Francais?“ und ihr damit auf nette Art den Wind aus den Segeln nehmen. Ich könnte langsam gehen. Ich könnte lächeln. Tout simplement. Und damit hätte ich wohl den Schalter schon umgelegt.
Aber um nicht nur mit mir zu hadern, muss ich auch mal en schönsten Moment des Tages festhalten. Einen „Schalter-Moment“. Ich stehe am Gare du Nord und warte auf meinen Zug. Ich sehe einen Clochard, der mir schon vor ein paar Tagen aufgefallen war. Er ist rappeldünn, ein Skelett, und sucht in den Mülleimern nach Essensresten. Ich hatte neulich ein halbes, nicht aufgegessenes Sandwich in der Tasche. Ich hätte es ihm geben wollen. Aber ich habe es nicht gemacht. Mir fehlte der Mut. Warum Mut? Wovor Angst? Angst, dass er es mir um die Ohren haut. Angst, etwas zu machen, worauf die anderen aufmerksam werden.
Heute sah ich ihn also wieder, und das war wohl meine zweite Gelegenheit. Ich hatte einen Kinderriegel in der Tasche, der mir nicht sehr am Herzen lag. Er hing wieder tief in einer Mülltonne drin, als ich mich zu ihm runterbeugte und fragte: „Vous mangez du chocolat?“ Ich weiß gar nicht ob er was geantwortet hat, es war ja auch nicht wirklich eine Frage. Ich gab ihm den Riegel und ging ein paar Meter weg. Ich beobachtete ihn. Er lehnte sich an die Tonne, und packte den Riegel gleich aus. Das Papier warf er in den Mülleimer und er aß, nicht mal sehr hektisch und ausgehungert, sondern fast anmutig. Als er ihn auf hatte, beugte er sich wieder in den Mülleimer, und angelte einen Becher heraus, nahm den Deckel ab und trank den letzen Schluck, der wohl noch darin war.
Ich kamenTränen in die Augen.
Ich freute mich, dass ich mich getraut habe, aber gleichzeitig tat er mir so leid. Wie anders sieht sein Leben aus! Wie schmeckt ein Schokoriegel, wenn man seit Tagen nichts mehr gegessen hat!? Dieser Mann führt das Leben eines Tieres, immer auf Nahrungssuche. Mit dem Unterschied, dass das Tier nicht am Rande steht und von den anderen missachtet wird.
Und dass das Tier in den meisten Fällen so was wie eine Familie hat.

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